Es ist Sommer 2018. Die Zugvögel, eine Jugendgruppe unserer Sektion, liegen faul am schwedischen Ostseestrand. Die Sonne scheint auf uns hernieder. Nicht ein Wolkenfetzen ist am Himmel zu sehen. Eine Woche Wildnis, Kanufahren und Inselleben auf einem schwedischen See liegt hinter uns. Vor uns die Fährfahrt nach Deutschland. Und danach? Das kann noch nicht alles gewesen sein. Ideen keimen auf - von Fjorden, Trollen, Schneetouren. Könnte man nicht wieder nach Skandinavien fahren? Diesmal ins Gebirge. Und wäre eine Fjelldurchwanderung im Herbst verrückt? Zuerst sind nur drei Zugvögel mit von der Partie und die Idee steht noch in den Sternen. Niklas wagt es und macht im Januar 2019 aus den Träumereien des Sommers eine Ausschreibung für den noch weit in der Zukunft liegenden Herbst und gibt ihr den Titel: „14 Tage Expedition ins wilde Norwegen“.
Vier weitere Teilnehmer*innen melden sich bei unserer noch kleinen Gemeinschaft. Bis auf die Jugenleiter*innen werden alle im Herbst 14 bis 16 Jahre alt sein. Im April 2019 kommt es zu unserem ersten Treffen, bei dem jedoch zwei Zugvögel fehlen. Wir erproben unsere ersten Outdoorgerichte und brainstormen über mögliche Vorbereitungsfahrten. Davon soll es insgesamt drei geben: Eine zum Kennenlernen und zur ersten Essenstestung, eine weitere zum Belastungscheck von Kondition und Equipment und eine abschließende Generalprobe. Es zeichnet sich schon jetzt ab, dass es ein groß angelegtes Projekt werden wird, gestaltet von uns Teilnehmer*innen. In monatlichen Planungstreffen werden wir die Fahrten nachbesprechen, Verantwortungen verteilen, uns des Gruppenzusammenhalts versichern und feilen und verbessern, wo es noch nötig ist.
Bis zu unserem nächsten Vortreffen kommt es nochmal zu einer Neubesetzung der Gruppe. Außerdem sind die beiden fehlenden Teilnehmer vom ersten Treffen anwesend, sodass wir nun vollständig sind. Wir besprechen alle relevanten Aspekte für die anstehende Elbsandsteingebirgs-Tour.
Drei Tage Später, am 03.05.2019 treffen wir uns alle am Südkreuz, steigen in den Mietwagen und fahren zum Nationalpark Sächsische Schweiz. Dort steigen wir um 20:00 Uhr noch bis zu unserer Boofe auf, in der wir übernachten werden. Am nächsten Morgen ist allen kalt und wir frühstücken unsere definitiv noch verbesserungswürdigen Müslis. Unser Weg führt uns im andauernden Schneeregen quer übers Gebirge. In der Boofe, die wir am Abend nur durch Zufall finden, versuchen wir unsere nassen Sachen zu trocknen. Am nächsten Morgen frühstücken wir aus Temperaturgründen in den Schlafsäcken und machten uns heute etwas kilometerorientierter auf den Weg zu den Schrammsteinen und dann zurück zum Auto. Wir ziehen die Bilanz, dass das Maiwochenende mit Schneeflocken und Temperaturen um den Gefrierpunkt hervorragende Bedingungen für eine potentiell schneereiche skandinavische Herbstexpedition darstellte.
Mitte Mai findet das nächste Planungstreffen statt. Ziele sind die Nachbereitung der Maifahrt und die Vorbereitung der Pfingstfahrt nach Österreich.
Am 07.06.2019 starten wir abends nach Osttirol und fahren die gesamte Nacht durch. Neuneinhalb Stunden später wachen wir in den Alpen auf und starten mit dem Aufstieg zum einsam gelegenen Alkusersee, kommen jedoch nur bis zur Hochebene unterhalb des Sees und schlagen dort bei unglaublichem Panorama unsere Zelte auf. Diese Ebene stellt nämlich die höchste Ebene dar, auf der unsere Zelte noch im Gras stehen würden. Darüber – nur noch Schnee. Indiz für einen ungewöhnlich harten letzten Winter. Am nächsten Morgen machen wir uns mit der Hälfte der Rucksäcke und ohne Zelte auf zum Hohen Prijakt. Mit 3064 m ü. NHN ein mittelschweres Unterfangen, da wir den gesamten Weg zum Gipfel durch den Altschnee spuren müssen. Oben essen wir zu Mittag und steigen, beziehungsweise rutschen, dann wieder ab. Über den Alkusersee und mit Umwegen kehren wir wieder zum Zelt zurück. Am darauffolgenden Tag steigen wir aufgrund des Gewittergrummelns ab und zur noch nicht bewirtschafteten Hochschoberhütte wieder auf und campieren vor dieser. Ein heftiges Unwetter überrascht uns über Nacht. Die Belastbarkeitsgrenze manch eines Zeltes wird uns aufgewiesen. Am nächsten Tag steigen wir über den Nasensteig und die Mirschachscharte zum Auto ab.
Nach den Sommerferien rückt plötzlich alles schnell näher, doch unser Ziel scheint ferner den je, da noch so viel geschehen muss: Die Packliste muss geschrieben werden, alles muss eingekauft werden, verschiedenste Dinge müssen organisiert werden, das Wetter muss von uns dokumentiert und ausgewertet werden, die Route muss festgelegt werden… Es sieht so aus, als müssten wir unsere Expedition ein Jahr nach hinten verschieben. An unserem Treffen Mitte August, versichern wir uns nochmal gegenseitig unserer Bereitschaft zusammen zu arbeiten, ohne die das Projekt zum Scheitern verurteilt ist. Anschließend teilen wir Verantwortungen auf.
Nun doch angefixt bekommen alle Beteiligten einen Motivationsschub. Die Vorbereitungen gehen schnell von statten und wir leisten bei unserer Generalprobe im Harz deutlich mehr, als das, was uns in Norwegen erwarten würde. Wir machen in zwei Tagen circa 55 Kilometer Strecke bei 1.500 Höhenmetern Aufstieg, stellen aber auch fest, dass dies die absolute Obergrenze ist. Nach dieser Tortur steht fest: Unsere Expedition wird 2019 stattfinden!
Am 10.09.2019 treffen wir uns erneut und besprechen, dass das Tempo, in dem wir vorbereiten sich definitiv noch weiter beschleunigen muss.
Zwei Wochen später treffen wir uns das letzte Mal. Alle haben einen Spurt hingelegt, um ihren Verantwortungen nach zu kommen. Die Wetterdiagramme der letzten zwei Wochen, die mehrfach überarbeitete Packliste und die ausgearbeitete Route werden vorgestellt.
Ein Tag vor der Abfahrt kaufen wir gemeinschaftlich ein. In unsere Einkaufswagen wandern fragwürdige Dinge wie 55 Tafeln Schokolade und 3 Kilogramm Parmesan. Sowohl die Kassiererin, als auch die Menschen vor und hinter uns in der Schlange fragen, auf welche Party wir eingeladen seien. Unsere Antwort löst bei den meisten Verwunderung und Mitleid aus, bei weiteren Erklärungen jedoch Verständnis und Bewunderung.
Dann ist der Tag gekommen: Wir sechs Zugvogelteilnehmer*innen und 2 Jugenleiter*innen fahren am 6. Oktober 2019 los.
Nachmittags geht es nach Rostock, von dort mit der Nachtfähre nach Trelleborg und später mit dem Auto durch Schweden und Norwegen bis nach Gjendesheimen im Nationalpark Jotunheimen. Nach fast 24 Stunden erreichen wir unseren Tourenstartpunkt.
Wir übernachten am Rande des Nationalparks und starten am nächsten Morgen frisch in unsere Tour. Der Gjende holt seine schönsten Farben hervor, um uns zu begrüßen und die ersten 12 Kilometer am See entlang sind entspannt im Vergleich zu dem, was noch kommen wird. Auch die Nacht in Memurubu, in einer kleinen Winterschutzhütte, ist bequemer als manch eine andere.
Am nächsten Morgen erwartet uns eine anstrengende Etappe. Es sollen 18 Kilometer und 1000 Höhenmeter gewandert werden. Den Anfang machen wir auf dem Südhang und fragen uns langsam, wofür wir unsere warmen Klamotten mitgenommen haben. Doch sobald wir den ersten Grat überschreiten, stehen wir knietief im Schnee. Auf dieser Strecke kommen wir an unsere Grenzen und laufen die letzten zwei Stunden sogar im Dunkeln.
Am nächsten Tag werden alle Zweifel, dass wir unnötige Kleidung geschleppt haben, getilgt, denn es wird sehr kalt auf 2465 Metern, unserem höchsten Etappenpunkt, der Glitzerzinne - dem zweithöchsten Punkt Skandinaviens. Nachdem wir, bis auf 1600 Meter abgestiegen sind, bauen wir unsere drei Zelte in der Nähe eines kleinen Flusses auf.
Als wir am nächsten Morgen unsere Augen öffnen, werden wir von einem wunderbaren Naturphänomen überrascht: Es schneit. Im Zelt. Doch als wir etwas wacher waren, stellen wir fest, dass sich nicht etwa eine Schneewolke bei uns im Zelt entleert, sondern lediglich das gefrorene Kondenswasser auf uns herunter rieselt.
Diesen Tag gehen wir eher ruhig an, da es aufgrund der Belastung dem*der einen oder anderen Teilnehmer*in etwas schlecht geht. Trotzdem legen wir 11 Kilometer zurück. Unterwegs kommen wir an der letzten bewirtschafteten Hütte des Nationalparks vorbei, wo wir Postkarten kaufen und unseren Bekannten schicken. Dort kommen wir auch in den Genuss einer richtigen Toilette und fließenden Wassers. Unser nächtliches Camp bauen wir, den Weg einige Kilometer weitergefolgt, bei Graupel auf und am folgenden Tag bei gleichen Wetterbedingungen auch wieder ab. Die erste Hälfte des Tages spuren wir über verschneite Geröllfelder an kleinen zugefrorenen Seen vorbei. Hierbei war höchste Konzentration gefordert, denn man sieht nie, ob unter dem Schnee ein Loch oder ein Stein ist. Nicht selten steht man plötzlich bis zur Hüfte im Schnee. Gegen Mittag machen wir auf dem Übergang von Nord- zu Südhang unsere erste Pause. Hier ist der Schnee etwas pappiger, weshalb wir eine Schneeballschlacht beginnen und einen Schnee-Zugvogel bauen. Nach unserer Pause wird der Schnee immer nasser bis er schließlich gänzlich verschwindet. Wieder haben wir einen typisch norwegischen Herbst. Wunderschöne Birken, umgeben von grüngrauem Moos, dazwischen große Felsbrocken und ein kristallklarer Fluss. Von weitem können wir schon wieder den Gjende sehen, doch, auch wieder typisch Norwegen, der Weg zieht sich noch acht Kilometer.
Aufgrund der Kürze der bevorstehenden Etappe dieses Tages, beschließen wir am Morgen ohne Rucksäcke auf den Gjendetunga zu steigen, um einmal den Gjende in seiner vollen Pracht zu erleben. Diese Unternehmung scheitert an einem stark vereisten Abschnitt. So kehren wir um und starteten in unsere eigentliche Route. Uns erwartet ein Aufstieg gesichert mit vielen Ketten und Seilen. Diese Abschnitte gestalten sich aufgrund unseres doch etwas schwereren Gepäcks relativ lustig. Oben auf dem Grat laufen wir nun wieder im Schnee. Über einige Auf- und Abstiege kommen wir schließlich nach Memurubu zu unserer altbekannten Hütte.
Unser letzter Tag entpuppt sich als wahres Finale unserer Tour, denn wir überqueren den Besseggengrat, der eine spektakuläre Aussicht über den Gjende und seine anliegenden Berge und steilen Flanken bietet. Wir beendeten die Tour im Dunklen, doch die Wege sind breit genug und wir kennen die Strecke teilweise auch schon, sodass wir sicher unser Auto erreichen.
Selbst jetzt hat manch eine*r noch nicht realisiert, was wir geleistet haben. Wir sind innerhalb der letzten sieben Tage 94 Kilometer mit vielen Passagen im Schnee gelaufen und 4300 Höhenmeter aufgestiegen. Im Nationalpark ist uns bis auf den einen Hüttenwirt keine Menschenseele begegnet. Nur ein paar Schneehühner knurrten uns an, wenn wir ihnen zu nahe kamen.
Die letzten Norwegentage verbringen wir in einer Blockhütte an den Fjorden, kochen Nudeln mit Lachs-Sahnesoße oder Kaiserschmarrn, machen Impro-Theater, streicheln Kühen die feuchte Nase oder fahren zum Wasser für kleine Spaziergänge oder die Besichtigung einer Stabkirche. Wir lassen es uns einfach richtig gutgehen nach den Strapazen der letzten Tage. So stört es uns auch wenig, dass von einst 11 Stunden Tageslicht zu Beginn der Tour, nun nur noch 9 einhalb Stunden übrig geblieben sind. Denn auch das gehört zu einem Herbst in Norwegen. Vor uns liegt die Fährfahrt nach Deutschland. Und danach? Das kann noch nicht alles gewesen sein…
Norwegenprojekt in Zahlen: Insgesamt liefen wir als Gruppe über die Saison 225,7 Kilometer und 10.325 Höhenmeter, trugen am „schwersten“ Tag mehr als 150 kg Gepäck auf unseren Schultern, kochten 21 Outdooressen, schliefen 11 Nächte im Freien oder im Zelt und 4 Nächte im Winterraum.
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